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Dieter zur Heide Nachruf

Dieter zur Heide, zweiter Inhaber der Buchhandlung zur Heide, die seit 1960 auch seinen Namen trägt, ist am 20.7.2021 verstorben.

Ein Gastbeitrag von Lennart Neuffer

“Warst Du schon bei Dieter?” - “Bei Dieter hab’ ich alle Bücher für mein Studium gefunden!” - “Ohne die Literatursuche von Dieter hätte ich den Schein nie bekommen.” - “Aus einem Stapel von verschiedenen Büchern übereinander hat Ditter (so sagten manche!) genau das herausgezogen, das ich brauchte.”

Solche Sätze waren seit Beginn der 1960er Jahre häufig zu hören, wenn man mit Osnabrücker Studierenden ins fachbezogene Gespräch kam. Alle diese Aussagen beziehen sich auf Dieter zur Heide, den - gemeinsam mit seine Frau Sieglinde - langjährigen Inhaber der Buchhandlung zur Heide in Osnabrück. Am 20. Juli 2021 ist diese eindrucksvolle Persönlichkeit gestorben, ein feiner und bescheidener Mensch, der ruhig und fundiert seiner Leidenschaft für die drei Bestandteile von Buchhandel folgte: Inhalt, Gestaltung und Vertrieb.

1935 im ostwestfälischen Rahden geboren, zog Dieter zur Heide mit Eltern und Bruder bald nach Berlin, wo er auch eingeschult wurde. Um Bombenangriffen auszuweichen, siedelte die Familie nach Melle um. Hier beendete er mit der Mittleren Reife die Schule und fuhr danach täglich nach Osnabrück zur Ausbildung, um dort in der Buchhandlung H.Th.Wenner die Kenntnisse für einen erfolgreichen Lehrabschluss zu erhalten. Ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis danach schied wegen seines nach Meinung des Inhabers zu “Benn”-haften Verhaltens aus, sodass er eine Stelle in Wiesbaden beim Verlag Werner Alippi antrat. Als er 1959 durch den Auktionator und Bücherfreund August Buck den Hinweis erhielt, dass das Ehepaar Hanckel einen Nachfolger für seine Buchhandlung am Neuen Graben suchte, entschieden sich die zur Heides - denn Dieter hatte in Wiesbaden inzwischen seine Sieglinde, die er bei Wenner kennengelernt hatte, geheiratet - zur Rückkehr nach Osnabrück und übernahmen das Geschäft am 1. April 1960.

Engagierte Aufbaujahre folgten, die auch immer mit dem vierköpfigen Zuwachs der eigenen Familie einhergingen, sodass Dieter in den 1960er Jahren die Hauptlast in der Buchhandlung trug, schon damals unterstützt von dann langjährigen Mitarbeiterinnen wie Anita Schubert oder Ingrid Risch. Eine besondere Bedeutung für die tägliche Arbeit ergab sich durch die räumliche Lage direkt gegenüber dem Osnabrücker Schloss. Dort betrieb das Land Niedersachsen seit 1953 die Adolf-Reichwein-Hochschule (ARH) zur Ausbildung der damals dringend benötigten “Volksschullehrer”. Die Studierendenzahlen stiegen kontinuierlich an. 1969 erfolgte die Integration der ARH in die Pädagogische Hochschule Niedersachsen, Abteilung Osnabrück, 1973 wurde dann die Universität Osnabrück gegründet, die 1974 den Studienbetrieb aufnahm und die Lehrerausbildung für alle Schularten anbot. Alle diese Studienangebote einschließlich der “einphasigen Lehrerausbildung” waren eng mit Fachwissen in gedruckter Form verbunden - ein Eldorado für einen arbeitsfreudigen und gewissenhaften Buchhändler.

Traditionell passten geisteswissenschaftliche Titel besonders gut in das Profil der bis 1968 noch unter dem Namen “Hanckel” geführten Buchhandlung, weshalb folgerichtig ein immer größerer Ausbau dieses Buchsegments von Dieter und Sieglinde vorangetrieben wurde, dagegen zum Beispiel Medizin oder Naturwissenschaften eher nicht. Ein “linker” Laden war die Buchhandlung schon lange, in den vielfach bewegten 68-er und Folge-Jahren konnten sich Interessierte leicht über alle dies-bezüglichen Themen informieren und entsprechend philosophische, historische und soziologische Werke erwerben (oder unbeobachtet mitnehmen, um die herrschende Klasse zu schädigen).

Dieter zur Heides Beratungsfähigkeit konnte sich in diesen Jahren voll entfalten: Er machte den - damals meist männlichen - Dozierenden deutlich, welche Arbeitserleichterung eine speziell sortierte Buchhandlung für ihre Arbeit ist und welche Anregung durch das Buchangebot wiederum für die eigene Lehre. Zusätzlich stellte er dank seines umfangreichen Wissens Themenlisten mit aktuellen bibliografischen Hinweisen zusammen, die die Lehrenden den Vorlesungsoder Seminarteilnehmern vorlegen konnten. Heute würde man sagen: eine Win-Win-Situation! Natürlich erhielten die Studierenden immer die richtige Antwort auf die Frage, wo sich die angegebene Fachliteratur erwerben ließe: “Geh zu Dieter, der hat alles vorrätig!”

Das Ladenlokal war schon lange viel zu klein geworden, die Zahl der Mitarbeiterschaft gestiegen, die administrativen Arbeitsplätze für Gitta Schärf und Ingrid Hallenberger in einem Nachbarhaus untergebracht. Rettung in dieser Situation - aber auch Ungewissheit - kam durch die Osnabrücker Stadtplanung, die eine Verbreiterung des “Neuen Grabens” beschlossen hatte und den Vermietern und Co-Mietern einen “Ersatz”-Standort an der Osterberger Reihe anboten. Wagemutige Entscheidungen waren Dieters Sache nicht, auch technischen Neuerungen, nicht nur im Buchhandel, stand er immer mit einer gewissen Skepsis und zunehmend stärker entgegen. Jetzt aber wurde 1982 eine gebrauchte Musterladeneinrichtung erworben und voller Elan der Umzug geplant und vorangetrieben. Zunächst waren die “Wissenschaften”, das Dieter sehr am Herzen liegende “Schulbuch” und das “Abholfach” an neuer Stelle im Erdgeschoß untergebracht, oben die Belletristik und das Kinder-und Jugendbuch - ein paar Jahre später wurde die Ordnung umgekehrt.

Unabhängig davon folgte Dieter immer seinen Ritualen: Morgens auf “NDR Kultur” die tägliche Lesung zu verfolgen, mittags im Betrieb das mitgebrachte Pausenbrot und den Kulturteil der “FAZ” zu genießen, am frühen Nachmittag den täglichen Kassensturz zu machen, damit am nächsten Morgen schon ein Grundstock von Einnahmen für die folgende Tageskasse vorhanden war oder am Abend Diskussion in Literatur- oder Lesekreisen zu führen. Gerade die Nutzung von Medien zur Information war ihm ein Anliegen, jedes neue Mitglied des Betriebs wurde von ihm immer wieder auf diesen Grundsatz hingewiesen oder mit Zeitungsausschnitten versorgt. Regelmäßig bestückte er eine Pinwand im Laden mit Ausschnitten der “FAZ”, um Kunden ihm wichtig erscheinende Beiträge nahe zu bringen. Er sorgte dafür, dass immer Nachschub für das von ihm wie ein Augapfel bewachte irgendwann meist gelbe “Reclam”-Regal unterwegs war. Er wälzte die sperrigen Schlagwortkataloge des “Verzeichnis der lieferbaren Bücher” und die der Großhandelskataloge, um jeder Person, die manchmal nur ein Zitat in einer Seminararbeit korrekt belegen wollte, Gewissheit zu geben oder für Suchende einen noch besseren wissenschaftlichen Beitrag zu finden, dessen Benennung den Lehrenden an Universität und Schulen nicht gelungen war.

Zahllose Jahrgänge von Schülerinnen, Schülern und Studierenden, aber auch viele Berufstätige aus unterschiedlichsten Bereichen beweisen die Wirkung seiner Arbeit durch ihre Verbundenheit mit der Buchhandlung auch nach dem Ende von Dieters Tätigkeit. Die schien erreicht, als er 1999 zusammen mit Sieglinde den Betrieb in die Hände seines Sohnes Sebastian und mir übergab - jedoch erforderte sein großes Buchhändlerherz noch ein jahrelanges “Abtrainieren”, wie es sich für einem Leistungssportler gehört. In dieser Zeit bis 2008 hat er sich neu erfunden, sich sogar mit neuen Arbeitsmitteln angefreundet angesichts eines sich verändernden Buchmarkts durch Konzentration und neue Kommunikationstechniken. Die Folgen der Umstellung der universitären Abschlüsse auf das Bachelor-System musste er im Laden nicht mehr erleben. Seinem Wunsch, den Zauber von literarischen Texten und vor allem von Lyrik zu vermitteln, konnte er nun entspannter folgen.

Ich danke ihm sehr für seine Aufgeschlossenheit, Informationsbereitschaft und Unterstützung. Auch wenn ich mir mit ihm - oder Sieglinde - nicht immer einig war, habe ich von ihm wesentliche Anregungen im Kundenumgang oder für die Faszination von literarischen Veranstaltungen erhalten. Ich freue mich sehr, dass er die 100 Jahre-Feiern der Buchhandlung zur Heide begleitet hat und wir drei uns aus diesem Anlass über viele Existenzphasen austauschen konnten. Auch meine Nachfolger haben ihm immer einen großen Lehnstuhl in der Buchhandlung, die seinen Namen trägt, bereit gestellt, wo er, von Sieglinde begleitet, seinen Platz fand. Dieser Sessel bleibt ab jetzt leer, aber in meinem Gedächtnis ist ein anderes Bild: Die fast totale Sonnenfinsternis in Osnabrück am 11. August 1999. Alle Menschen schauen draußen mit ihren Spezialsonnenbrillen aus Papier zum Himmel. Als sich der Mond vor die Sonne schiebt, verstummen die Vögel und alle Passanten - nur einer schaut dem Schaupiel in dieser faszinierenden Stille nicht zu: Dieter zur Heide wartet in der oberen Etage der Buchhandlung auf den nächsten Kunden, seine Beratung könnte ja auch genau in diesem Moment benötigt werden...

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Foto: (c) Lennart Neuffer